Großvater liest Playboy

Andreas Maloris
Großvater liest Playboy
Aus dem Erzählband „Nichts, nichts“ (2003), übersetzt von
Michaela Prinzinger

 

Großvater ist gestorben. Der Tod hat ihm mit achtundachtzig ein Schnippchen geschlagen. Am Nachmittag findet das Begräbnis statt. Nachdem er sich mit Prostatabeschwerden und kleineren Schlaganfällen herumgequält hatte, schien er schließlich wieder auf die Beine zu kommen, bis er vorgestern beschloß, den nächsten Tag nicht mehr zu erleben. Er liegt noch im Kühlzellenraum. Ich habe ihn nicht mehr lebend gesehen. Gestern erst bin ich nach Abschluß meines Studiums zurückgekehrt, und gleich wurde mir die Bürokratie des Begräbnisses aufgehalst, eine freudlose und schwere Pflicht. Nun suche ich in der Zeitung nach der geschalteten Anzeige, kurz bevor ich zur Anatomie muß. Dabei fällt mein Blick auf einen Artikel von Herrn Savvikakis, dem ehrwürdigen Gymnasialprofessor. Er trägt den Titel „Bei Bedarf benutzen“ und handelt vom Sexualleben der Senioren. Beim Gedanken an den Großvater halte ich inne und denke nach. Wie kommt der denn dazu, einen so knackigen und gewagten Text zu schreiben, wo er uns doch ein Leben lang bis in den Schlaf mit seiner dozierenden Moral verfolgt hat? Haben ihn vielleicht nach langen fruchtlosen Jahren ohne Erektion die Viagra-Sirenen erweckt? Oder fantasiert er etwa im schimmernden Vorhof des Todes? Doch er war nicht wie Großvater. Beim Thema Sex war keiner so fortschrittlich wie er. Ich lehne mich zurück und verschränke die Arme hinter dem Kopf, blicke ins Leere, schräg hinter die Sanddünen der Zeit, und bin wieder vierzehn Jahre alt. Mitten im Garten meines Großvaters suche ich zwischen dem Spinat nach meinem Fußball… Zu meinem Schrecken sitzt er auf einem zarten AmaranthPflänzchen und ich angle danach. Urplötzlich springt, einer Heuschrecke gleich, ein Mann herbei, jenseits der Siebzig, jedoch noch stramm und rüstig. Seine verwitterte, aber immer noch schnelle Pranke packt den Ball und verschwindet damit. Das tut Großvater jedesmal, wenn eine Notlandung meines Fußballs sein Gemüse in Mitleidenschaft zieht, und ich bleibe mit leeren Händen zurück. In Kürze wird an diesem Juliabend die Sonne versinken und die Luft angenehm abkühlen. Es dunkelt. Er erhebt sich, und ich folge seinem Schatten. Mit dem Ball unter dem Arm durchquert er den Flur, öffnet das Schlafzimmer, wirft ihn in eine Ecke und legt sich sogleich ins Bett. (Seit Jahren schläft er von der Großmutter getrennt.) Er zündet die Petroleumlampe an, läßt die Tür für einen frischen Luftzug ein wenig offen, zieht die Schuhe aus, stößt ein tiefes, orientalisches Ahhh! aus und legt sich hin. Minutenlang verharrt er wie einbalsamiert, während er mit einem unerklärlichen, leeren Blick zur Decke starrt. Gleichzeitig zwirbelt er seinen frisch gewichsten Schnurrbart. Er verschränkt die Arme wie ein Leichnam und scheint auf etwas Geheimnisvolles zu warten. Im Nachbarzimmer bäumt sich die Großmutter ein letztes Mal hustend auf, bevor ihr rhythmisches Schnarchen ertönt und anscheinend Signalwirkung hat. Denn Großvater tut etwas vollkommen Unerwartetes und beeindruckt mich damit zutiefst: Vorsichtig hebt er die Decke an, ganz heimlich stiehlt sich seine Hand in eine Art Piratenversteck und zieht – was wohl – heraus? Den Playboy! Von meinem Standort kann ich durch den Türspalt das Titelblatt ganz deutlich erkennen. Vorsichtig schiebe ich mich durch die Tür, schleiche mich bis zum Bett heran, blicke ihm verschwörerisch über die Schulter und … welche Augenweide! Blendend schöne junge Frauen paradieren mit unerhörter Leichtfüßigkeit, mit sagenhaften Rundungen, kilometerlange Beinen, wippenden Brüsten und erregten Brustwarzen! An der am heißesten umkämpften Stelle, die er mit seinen kurzsichtigen Augen aus nächster Nähe begutachtet, murmelt er: „Brennende Dornbüsche, an denen man sich nicht wirklich verbrennen kann, ts, ts, ts…“. Ich fühle seine Gedanken, das Glühen, das seine eingerosteten Glieder durchfährt, schwappt auf mich über, seine Erregung ist auch meine Erregung: „Reue überflüssig!“ höre ich ihn denken. Rechtzeitig ziehe ich mich zurück. Auf Zehenspitzen greife ich mir den Ball und schleiche mit trockenem Mund nach draußen. Am Samstagmorgen, als keiner im Haus ist, dringe ich wieder ein. Ich suche unter der Decke und siehe da: Gewagte Abbildungen bündelweise! Mit Schweißperlen auf der Stirn schnappe ich mir aufs Geratewohl eine davon und verschwinde, auf gespanntem Seil über einem schwindelerregenden Abgrund balancierend. Meine Raubzüge wiederholen sich so lange, bis Großvater mir eines Tages auflauert und mir mit seinem Stock Saures gibt. Notgedrungen verlege ich mich auf die luftigzarten Gebilde der Phantasie und folge meinem Trieb von nun an ohne Vorlage. Am schlimmsten trifft es jedoch den Fußball. Als er beim nächsten Mal aufgegriffen wird, erhält er eine brutale Strafe: Der Großvater zieht ein Messer hervor und schlitzt ihn auf. Jedesmal wiederholt sich dieselbe bestialische Abfolge: Der Ball, vom Schlag getroffen, fällt zischend zu Boden, zitternd geht ihm die Luft aus, er wird kleiner, wirft Falten, schrumpft, seufzt erstickt ein letztes „Gehet hin…“ und wird auf den Müll geworfen. Wir sind schon auf dem Friedhof, ich und mein Cousin aus der Hauptstadt. Es ist August und die Hitzewelle dieses Jahr so schlimm wie nie zuvor: Die Glut läßt die Augen in den Höhlen gerinnen und die Alten in der Stadt sterben hintereinander weg, wie die Mücken, die eine elektrische Leuchte umschwirren. Im Wartesaal herrscht ein lärmiges Durcheinander. Den für den Kühlzellenraum verantwortlichen Tintenklecksern ist anscheinend ein Lapsus passiert. Immer wieder durchforsten sie das Bündel an Bescheinigungen, doch die Namen der Verstorbenen sind heillos durcheinandergeraten. Die Zeit vergeht und die Hitze wird unerträglich. Beide scheinen wir vor dem dampfenden Kessel des Todes in der Warteschlange zu stehen. Doch Großvater bleibt verschwunden. Er scheint ohne bürokratisches Brimborium in die Ewigkeit eingegangen zu sein, direkt aus der Kühlzelle, vorzeitig entmaterialisiert, unauffindbar. Rein-raus, raus-rein werden die tiefgekühlten Schubfächer gezogen, doch die alten Leute sehen alle gleich verhutzelt aus! „Entschuldigen Sie, meine Herrschaften, wir können Ihren Großvater nicht finden“, sagt man uns wiederholt, und der Termin des Begräbnisses rückt immer näher. Der Cousin hält es schließlich nicht mehr aus, er springt entnervt auf: „Na dann geben Sie irgendeinen heraus, damit wir ihn begraben können, wir sind für diese Angelegenheit von weither angereist!“ Empört schnelle ich vor und suche eigenhändig eine Todesschiene nach der anderen ab und siehe da: Ein halbes, versteinertes Lächeln, und seine Finger, die sich um ein eingefrorenes Stück Papier krampfen. Unauffällig entwinde ich es ihm und stecke es in meine Hosentasche. Dann gehe ich hinaus, setze mich in meinen Wagen, zwinge die Klimaanlage zu arktischen Temperaturen und lehne mich zurück. Ich ziehe das Stück Papier hervor und betrachte es: Der Ausschnitt eines weiblichen Aktfotos, das ein Stück Brust zeigt! Bevor ihn das Leben auszählte, hatte Großvater es geschafft, ein Stückchen Brust zu vernaschen! Das Begräbnis war schlicht, mit nur wenigen Trauergästen. Wer erinnert sich schon an einen verstorbenen Neunzigjährigen? Denn alle, die auf jeden Fall gekommen wären, hatten wohl schon, lange vor Großvater, das Zeitliche gesegnet. Die nächsten Verwandten sind tief bewegt und die Großmutter schluchzt ob des schmerzlichen Verlustes, genauer gesagt natürlich ob der Tatsache, daß auch ihr Ende naht. Seit geraumer Zeit hat sie die Achtzig überschritten. Der Sarg wird in das frisch geschaufelte Grab hinabgelassen, der Deckel geöffnet und die Verwandten werfen dem Großvater bedenkenlos Erde ins Gesicht, der Geistliche spricht das „Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub“, und genau da trete ich an das offene Grab: Aus meinem Hemd ziehe ich einen schlaffen, faltigen, offensichtlich durch Messerstiche gemeuchelten Fußball und lasse ihn auf die reglose Brust des Großvaters sinken. Der Geistliche ist überrascht, bleibt stecken und spricht wie eine hängen gebliebene Schallplatte: „Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub“, „Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub“. Er blickt sich suchend nach Beistand um, doch die Umstehenden geben, wie Fische auf dem Trockenen, keinen Laut von sich. Schließlich faßt er Mut und die Litanei findet ihre Fortsetzung. Noch einmal führe ich die Hand zu meiner Brusttasche. Ich zerre das neueste Playboy-Heft hervor, beuge mich gelassen nach vorne und lege es in die zusammengebundenen Hände des Großvaters. Die Platte des Geistlichen bleibt wieder hängen, ein paar Minuten herrscht tödliches Schweigen, doch dann kommen alle wieder zu sich. Der Psalm wird zu Ende gesungen und die tief trauernden Verwandten verlassen den Ort. Die Erde übernimmt das Übrige. Beim Verlassen des Begräbnisses fängt mein Ohr das Gewisper ansonsten wohlanständiger Damen auf. Sie reden über einen nervösen Tick, der mich erfaßt habe, da ich seinen Verlust nicht ertragen könne, deshalb täte ich seltsame, unpassende Dinge. Ich könne es nicht verwinden, sagen sie, daß ich ihn nicht mehr lebend angetroffen hätte. Ich zwänge mich in den Wagen, trete das Gaspedal durch und entfliehe dem modrigen Friedhof. Fünf Minuten später bin ich vor dem Brachland, neben Großvaters Garten. Ich rolle ein Stück hinein und bremse sachte. Ich stelle den Motor ab, beuge mich nach unten und ziehe unter dem Sitz den Playboy vom letzten Monat hervor und blättere ihn durch. In der Mitte halte ich an: Es ist ein Ganzkörperbild von Cindy Crawford, nackt. Ich reiße die Seite heraus und rolle sie zusammen, dann kurbele ich ein wenig das Fenster hinunter und stecke das Papierfernrohr durch das halb geöffnete Fenster. Ich schließe ein Auge und blicke über mit dem anderen über den vertrockneten Garten: Ganz weit weg, hinter den Sanddünen der Zeit, kann ich gerade noch die Gestalt des Großvaters erkennen, die sich Schritt für Schritt entfernt. Ich springe aus dem Wagen, rolle die Seite wieder auf, forme auf die Schnelle daraus einen Flieger von beispielhafter Aerodynamik, nehme Anlauf und schleudere ihn mit Macht in die Richtung, wo das Bild des Großvaters langsam erlischt. Nun liegt alles in Cindys Hand.